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Der EM-Blog (Teil 9)
Depression und Wahnsinn

Wieder ein Sieg für die Türkei in letzter Minute. EM-Blogger Ralf Piorr stellt langsam erste Ermüdungserscheinungen fest: Bei sich, bei den türkischen Fans und bei der Polizei…


Erst am Boden, dann obenauf: Hamit Altintop.

Stille kann sehr laut sein, vor allem wenn sich achtzig Menschen in einem Raum darin üben. Einzig der Kommentar von Béla Réthy hallte durch die tief hängenden Rauchschwaden. 70 Minuten waren in Genf gespielt und die Türkei lag mit 0:2 hinten. Das Spiel war noch nicht zu Ende, aber es war schon an der Zeit, die Schuldigen zu suchen. Allen voran ausgemacht: Fatih Terim, der „Imparatör“. Und warum musste sich der Turbanträger Emre Asik erst noch Schienbeinschützer und Stutzen anziehen, bevor er eingewechselt werden konnte? Genau in dieser Zeit hatten die Tschechen auch mangels eines türkischen Innenverteidigers das 2:0 erzielt. Bevor aber die Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien ins Unendliche uferten, schlug der Fußball mit all seiner Unberechenbarkeit zurück, und der neutrale Beobachter erhielt eine Lehrstunde in Sachen „Massenphänomen“. Das 1:2 machte aus dem zeternden Einzelnen wieder ein Teil der leidenschaftlich auf die Leinwand starrenden Gemeinschaft. Beim Ausgleich lagen sich alle in den Armen und waren Gleiche unter Gleichen im Banne des Fußballs. Der Siegtreffer schließlich, die Sekunde als der Ball von Nihat dramatisch von der Torlatte hinter die Linie ins Netz sprang, glich einem kollektiven, urwüchsigem „Torgasmus“. Es gab kein „Ich“ mehr, es gab nur noch das „Wir“, den Jubel und Türkiye. Depression und Wahnsinn so dicht beieinander.

Kapriziös: Ein eher untypischer türkischer Fan.

In dieser Logik ist es auch verständlich, dass der Rausch der Gefühle auf die Straße drängt. Wie bereits beim Sieg gegen die Schweiz, bloß diesmal dreimal mehr Menschen, versammelten sich jung und alt, Frauen und Männer auf der Straße, um ihre Mannschaft zu feiern. „Eigentlich bin ich von dem Spiel viel zu mitgenommen, um mich jetzt so richtig freuen zu können“, offenbarte sich mir ein Fan, der etwas müde die türkische Flagge schwenkte. Dabei sein wollte er aber trotzdem. Es war eine Wiederholung des letzten Straßenfestes, bloß größer und mehr in Richtung nächtlicher Familienausflug. Wieder wurde der Kreisel am Bahnhof lahm gelegt, erneut wurde die Bahnhofsvorhalle gestürmt, weil dort die Rufe besonders laut widerhallen. „Jetzt kommt gleich wieder die Polonaise durch die Fußgängerzone“, kommentierte ein Polizist gelassen. Für die Bereitschaft in Grün war der Abend eher unglücklich verlaufen, nicht nationalistisch gesehen, sondern rein von der Arbeitszeit her. „Ich gönne es ihnen ja“, sagt einer, „aber nach dem 2:0 dachte ich schon, ich komme früh ins Bett.“ Für die hiesigen Freudenfeiern der Tschechen hätte wohl auch ein Fahrradpolizist gereicht.

Die Polizisten verhallten sich generell defensiv, versuchen nur, den Verkehr etwas zu regeln. „Friede, Freude, Eierkuchen“, resümiert einer von ihnen den bisherigen Einsatz. Neben mir musste ein türkischer Fan grinsen, der das Gespräch verfolgt hatte: „Die hatten sich bestimmt schon umgezogen und für den Feierabend fertig gemacht, aber sie hatten nicht gerechnet mit TÜRKIYEEEE“, wobei er mir eben letzteres ungehemmt ins Ohr schreit. Aber ich bin diesmal mit deutlich weniger Enthusiasmus dabei. Es halt ist ein bisschen so wie im berühmten Sketch „Dinner for one“:

„The same procedure as last year, Miss. Sophie?" - „The same procedure as every year, James!“ Und dabei stehen wir erst vor dem Viertelfinale: „Well, I will do my very best!“

Kurz Notiert / Amateurfußballnews

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